Martina Binnig, Gastautorin / 29.04.2024 / 06:15 / Foto: Mini Misra / 24 / Seite ausdrucken

Die EU greift nach den Gesundheitsdaten

Mit der Verordnung über den Europäischen Raum für Gesundheitsdaten werden im Falle von „schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren“ repressive Überwachungsinstrumente geschaffen. Das alles erinnert an Corona.

Seit fast zwei Jahren verhandeln die EU-Institutionen über die Schaffung eines „Europäischen Raums für Gesundheitsdaten“ (European Health Data Space, kurz: EHDS). Nun nähert sich das Gesetzesvorhaben seinem Abschluss, und um es vorwegzunehmen: Der EHDS zeigt alarmierend repressive Züge. So sollen die Gesundheitsdaten aller EU-Bürger für die „Sekundärnutzung“ zur Verfügung stehen, also etwa für wissenschaftliche Forschung, aber beispielsweise auch zum Trainieren von KI-Algorithmen und für die Politikgestaltung.

Zwar gibt es die Möglichkeit, der Datennutzung individuell zu widersprechen, doch bei „schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren“ gelten Ausnahmereglungen. Dann kann uneingeschränkt auf Gesundheitsdaten zugegriffen werden. Außerdem könnten digitale Instrumente wie die Corona-Warn-App oder Impfzertifikate verewigt werden: ein wahres El Dorado für Pharma- und Digitalkonzerne! 

Doch der Reihe nach: Am 24. April nahm das EU-Parlament mit 445 Ja-Stimmen und 142 Nein-Stimmen (bei 39 Enthaltungen) den Europäischen Raum für Gesundheitsdaten sowie neue Vorschriften zur Verbesserung der Sicherheit und Qualität von Substanzen menschlichen Ursprungs (SoHO) an. Wie die EU-Kommission mitteilt, handele es sich dabei um „zwei Eckpfeiler einer starken europäischen Gesundheitsunion, die die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger schützt und die Widerstandsfähigkeit der Gesundheitssysteme verbessert“.

Mit ihrer „bahnbrechenden Initiative“ einer Verordnung zur Schaffung des Europäischen Raums für Gesundheitsdaten, die sie bereits im Mai 2022 vorgeschlagen hat, will die EU-Kommission zwei Hauptziele verfolgen: Sie will die Bürger „in den Mittelpunkt ihrer Gesundheitsversorgung“ stellen und ihnen „die volle Kontrolle über ihre Daten gewähren, um eine bessere Gesundheitsversorgung in der gesamten EU zu erreichen“. Und sie will – last not least – die Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschungszwecke und für Zwecke der öffentlichen Gesundheit gestatten.

Es geht um viel Geld

Die EHDS-Verordnung regelt also ausdrücklich die Nutzung der Gesundheitsdaten aller EU-Bürger. Dadurch sollen vorgeblich vor allem die medizinischen Leistungen verbessert werden. So gab der Rat der Europäischen Union, der seinen Standpunkt im Verlauf des EU-Gesetzgebungsverfahrens am 6. Dezember 2023 veröffentlicht hatte, als eine wesentliche Begründung für die Notwendigkeit eines europäischen „Binnenmarkts für digitale Gesundheitsdienste und -produkte“ an: „Derzeit gibt es in der EU Unterschiede beim grenzüberschreitenden Zugang zu Gesundheitsdaten. Nach den neuen Vorschriften soll es beispielsweise möglich werden, dass ein spanischer Tourist eine Verschreibung in einer deutschen Apotheke abholt, oder dass Ärzte auf die Gesundheitsinformationen eines belgischen Patienten zugreifen können, der in Italien behandelt wird.“

Das klingt sinnvoll, doch wenn man sich den nun vom Parlament angenommenen 189 Seiten umfassenden Text der Verordnung durchliest, drängt sich der Eindruck auf, dass in erster Linie die Interessen der Pharma- und der Digitalkonzerne vertreten werden.

Mit anderen Worten: Es geht um viel Geld. In einem nur knapp zwei Seiten zählenden Forschungsservice-Briefing, das den Parlamentariern im Dezember 2023 vorgelegt wurde, wird beispielsweise hervorgehoben, dass der globale Markt für die digitale Gesundheit zwischen 2015 und 2020 stetig angewachsen ist, nämlich von 16 Milliarden Euro auf 31 Milliarden Euro, wobei die elektronischen Patientenakten einen erheblichen Anteil ausmachen. Immerhin erreichte das Parlament, das seine Position zum EHDS am 13. Dezember 2023 mitgeteilt hatte, beim Aushandeln der finalen Fassung der Verordnung, dass es weiterhin eine individuelle Widerspruchsmöglichkeit gegen die Sekundärnutzung von Daten geben wird. 

Allerdings liegt dieses sogenannte Opt-out-Recht letztlich im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten. Wörtlich heißt es in Artikel 48a („Recht, der Verarbeitung personenbezogener elektronischer Gesundheitsdaten für die Sekundärnutzung zu widersprechen“): „Natürliche Personen haben das Recht, der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen elektronischen Gesundheitsdaten für die Sekundärnutzung im Rahmen dieser Verordnung jederzeit und ohne Angabe von Gründen zu widersprechen. Die Ausübung dieses Rechts ist reversibel.“

Wer denkt dabei nicht sofort an Corona?

Und weiter: „Die Mitgliedstaaten können nach nationalem Recht einen Mechanismus einrichten, um Daten, für die eine Widerspruchsklausel in Anspruch genommen wurde, unter folgenden Bedingungen zur Verfügung zu stellen: a) Der Datenzugang oder der Datenantrag wird von einer öffentlichen Stelle oder einem Organ, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union, die mit der Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der öffentlichen Gesundheit betraut ist, oder von einer anderen Organisation gestellt, die mit der Wahrnehmung von öffentlichen Aufgaben im Bereich der öffentlichen Gesundheit betraut ist oder im Namen oder im Auftrag einer Behörde handelt, wenn dies für einen der folgenden Zwecke erforderlich ist: i) für die in Artikel 34 Absatz 1 Buchstaben a bis c aufgeführten Zwecke; ii) für wissenschaftliche Forschung aus wichtigen Gründen des öffentlichen Interesses. b) Die Daten können nicht rechtzeitig und wirksam unter gleichwertigen Bedingungen auf anderem Wege erhalten werden.“

Diese in Artikel 34 festgelegten Zwecke sind: „a) öffentliches Interesse im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Gesundheit am Arbeitsplatz, z. B. Tätigkeiten zum Schutz vor schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gefahren für die Gesundheit und zur Überwachung der öffentlichen Gesundheit oder Tätigkeiten zur Sicherstellung eines hohen Qualitäts- und Sicherheitsniveaus für die Gesundheitsversorgung, einschließlich der Patientensicherheit, Arzneimittel oder Medizinprodukte; b) Politikgestaltung und Regulierungstätigkeiten zur Unterstützung von öffentlichen Stellen oder Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, einschließlich Regulierungsbehörden, im Gesundheits- oder Pflegesektor bei der Wahrnehmung ihrer in ihren Mandaten festgelegten Aufgaben; c) Statistiken, wie nationale, multinationale und unionsweite amtliche Statistiken im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 223/2009 über den Gesundheits- oder Pflegesektor“. 

Das bedeutet, dass es zum Beispiel bei „schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gefahren für die Gesundheit“ Ausnahmeregelungen geben kann. Hier wird den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, „im Hinblick auf ihren nationalen Kontext einen Mechanismus für den Zugang zu Daten natürlicher Personen einzurichten, die von dem Widerspruchsrecht Gebrauch gemacht haben, um sicherzustellen, dass in diesen Situationen vollständige Datensätze zur Verfügung gestellt werden können“.

Wer denkt dabei nicht sofort an Corona? Und tatsächlich ist in der Verordnung einleitend festgehalten: „Die COVID-19-Pandemie hat deutlich gemacht, dass ein zeitnaher Zugang zu hochwertigen elektronischen Gesundheitsdaten für die Vorsorge und Reaktion bei Gesundheitsbedrohungen und für die Prävention, Diagnose und Behandlung sowie für die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten unerlässlich ist. Ein solcher zeitnaher Zugang kann durch eine effiziente Überwachung und Beobachtung der öffentlichen Gesundheit möglicherweise zu einer wirksameren Bewältigung künftiger Pandemien, geringeren Kosten und einer besseren Reaktion auf Gesundheitsbedrohungen beitragen und letztlich dabei helfen, mehr Leben zu retten.“ 

Fehlende Belege

Und weiter: „Im Jahr 2020 passte die Kommission ihr mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2019/1269 der Kommission eingerichtetes System für das klinische Patientenmanagement im Eilverfahren an, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, elektronische Gesundheitsdaten von COVID‑19-Patienten auszutauschen, die während des Höhepunkts der Pandemie den Gesundheitsdienstleister wechselten oder sich von einem Mitgliedstaat in einen anderen begaben; dies war jedoch nur eine Notfalllösung, die verdeutlichte, dass ein struktureller und kohärenter Ansatz auf Ebene der Mitgliedstaaten und der Union erforderlich ist, um die Verfügbarkeit elektronischer Gesundheitsdaten für die Gesundheitsversorgung zu verbessern und den Zugang zu elektronischen Gesundheitsdaten zu erleichtern und so wirksame politische Maßnahmen zu steuern und zu hohen Standards für die menschliche Gesundheit beizutragen.

Durch die COVID-19-Krise wurde die Arbeit des Netzwerks für elektronische Gesundheitsdienste (e-Health), eines freiwilligen Netzwerks von Behörden für digitale Gesundheit, zur tragenden Säule für die Entwicklung mobiler Kontaktnachverfolgungs- und Warn-Apps und der technischen Aspekte der digitalen COVID-Zertifikate der EU. In der Pandemie hat sich auch gezeigt, wie wichtig die gemeinsame Nutzung elektronischer Gesundheitsdaten ist, die auffindbar (Findable), zugänglich (Accessible), interoperabel (Interoperable) und wiederverwendbar (Resuable) sind (`FAIR-Prinzipien´), und dass sichergestellt werden muss, dass elektronische Gesundheitsdaten so offen wie möglich sind, wobei der Grundsatz der Datenminimierung zu achten ist.

Es sollte sichergestellt werden, dass Synergien zwischen dem EHDS, der Europäischen Cloud für offene Wissenschaft (European Open Science Cloud, EOSC) und den europäischen Forschungsinfrastrukturen sowie die Erkenntnisse aus Lösungen für den Datenaustausch, die im Rahmen der Europäischen COVID-19-Datenplattform entwickelt wurden, genutzt werden.“ Es wird demnach stillschweigend vorausgesetzt, dass Kontaktnachverfolgungs- und Warn-Apps sowie die digitalen COVID-Zertifikate einen entscheidenden Einfluss auf die Bewältigung der Corona-Krise gehabt hätten. Belege dafür fehlen jedoch. Dennoch muss die „Vorbereitung und Reaktion auf Gesundheitsbedrohungen, unter anderem zur Prävention und Bewältigung künftiger Pandemien“ als Begründung für die Notwendigkeit des EHDS herhalten.

„Behörden für digitale Gesundheit“

So wird erläutert: „Mit dieser Verordnung wird der europäische Raum für Gesundheitsdaten (European Health Data Space, im Folgenden `EHDS´) eingerichtet, um den Zugang natürlicher Personen zu ihren personenbezogenen elektronischen Gesundheitsdaten und ihre Kontrolle über diese Daten im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung (Primärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten) zu verbessern und andere Zwecke in den Bereichen Gesundheitsversorgung und Pflege mit gesellschaftlichem Nutzen wie Forschung, Innovation, Politikgestaltung, Vorbereitung und Reaktion auf Gesundheitsbedrohungen, unter anderem zur Prävention und Bewältigung künftiger Pandemien, Patientensicherheit, personalisierte Medizin, amtliche Statistik oder Regulierungstätigkeiten (Sekundärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten) besser zu erreichen. Darüber hinaus soll das Funktionieren des Binnenmarkts verbessert werden, indem ein einheitlicher Rechtsrahmen und technischer Rahmen insbesondere für die Entwicklung, Vermarktung und Verwendung von Systemen für elektronische Patientenakten (electronic health records, EHR) (im Folgenden `EHR-Systeme´) im Einklang mit den Werten der Union festgelegt wird.“

Die Mitgliedstaaten sollen daher „einschlägige Behörden für digitale Gesundheit“ einrichten, und die Nutzung der  digitalen Infrastruktur MyHealth@EU soll obligatorisch werden. Diese Infrastruktur betrifft beispielsweise auch Impfzertifikate. So wird gefordert: „Zusätzlich zu den Diensten in MyHealth@EU für den Austausch personenbezogener elektronischer Gesundheitsdaten auf der Grundlage des europäischen Austauschformats für elektronische Patientenakten können andere Dienste oder ergänzende Infrastrukturen beispielsweise dann erforderlich sein, wenn Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit eintreten oder die Architektur von MyHealth@EU für bestimmte Anwendungsfälle nicht geeignet ist.

Beispiele für solche Anwendungsfälle sind die Unterstützung von Impfpassfunktionen, einschließlich des Austauschs von Informationen über Impfkalender oder der Überprüfung von Impfzertifikaten oder anderen gesundheitsbezogenen Zertifikaten. Dies wäre auch wichtig, um zusätzliche Funktionen für die Bewältigung von Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit einzuführen, wie z. B. die Unterstützung der Kontaktnachverfolgung zwecks Eindämmung von Infektionskrankheiten.“ Damit könnten Corona-Instrumente wie Warn-App und digitales COVID-Zertifikat verewigt werden.

"Innovation, Politikgestaltung, Regulierung, Patientensicherheit"

Die Argumentationskette beginnt mit der Feststellung, dass ein Großteil der vorhandenen gesundheitsbezogenen Daten nicht für andere Zwecke als für den ursprünglichen Zweck ihrer Erhebung nutzbar sei. Dies schränke „Akteure aus Forschung und Innovation, politische Entscheidungsträger, Regulierungsbehörden und Ärzte“ in ihren Möglichkeiten ein, diese Daten für Zwecke wie etwa Forschung, Innovation, Politikgestaltung, Regulierung, Patientensicherheit oder personalisierte Medizin zu verwenden. Damit die Vorteile der Sekundärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten voll ausgeschöpft werden können, sollen nun alle Inhaber von Gesundheitsdaten daran mitwirken, indem sie Daten für die Sekundärnutzung zur Verfügung stellen.

Dabei können die Kategorien elektronischer Gesundheitsdaten auch „einschlägige Daten aus dem Gesundheitssystem (elektronische Patientenakten, Daten zu Krankenversicherungsleistungen, Verordnungsdaten, Daten aus Krankheitsregistern, Genomdaten usw.) sowie Daten zu gesundheitsrelevanten Einflussfaktoren“ einschließen wie z. B. „Konsum bestimmter Substanzen, sozioökonomischer Status, Verhalten, einschließlich Umweltfaktoren wie Verschmutzung, Strahlung, Umgang mit bestimmten chemischen Stoffen“. 

Von besonderem Interesse für Pharmakonzerne sind Genomdaten, und so wird folgerichtig ausgeführt: „Insbesondere Genomdaten zu Krankheitserregern haben einen erheblichen Wert für die menschliche Gesundheit, wie sich während der COVID-19-Pandemie gezeigt hat. Der zeitnahe Zugang zu solchen Daten und ihr frühzeitiger Austausch haben sich als wesentlich für die rasche Entwicklung von Nachweismethoden, medizinischen Gegenmaßnahmen und Reaktionen auf Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit erwiesen.“ Auch hier wird ohne Belege davon ausgegangen, dass Massentests und die auf der neuen mRNA-Technologie basierenden Impfstoffe tatsächlich als Gamechanger während Corona gewirkt hätten. Bei der Vermarktung etwa von Impfstoffen geht es nicht zuletzt auch um Patente und „geistiges Eigentum“.

Nicht nur eine Datenansammlung

Diesem Aspekt wird der Text ebenfalls gerecht: „Elektronische Gesundheitsdaten, die durch Rechte des geistigen Eigentums oder Geschäftsgeheimnisse geschützt sind, einschließlich Daten über klinische Prüfungen, Untersuchungen und Studien, können für die Sekundärnutzung sehr nützlich sein und Innovationen innerhalb der Union zum Nutzen der Patienten in der Union fördern. Um Anreize für eine kontinuierliche Führungsrolle der Union in diesem Bereich zu schaffen, werden die Daten klinischer Prüfungen und klinischer Untersuchungen über den EHDS für die Sekundärnutzung [...] ausgetauscht. Sie sollten so weit wie möglich zur Verfügung gestellt werden, wobei alle zum Schutz dieser Rechte erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen sind. Diese Verordnung sollte nicht dazu verwendet werden, einen solchen Schutz zu verringern oder zu umgehen.“

Das „geistige Eigentum“ etwa der Pharmakonzerne wird durch die Verordnung also nicht angetastet. Auch die „Zwecke wissenschaftlicher Forschung“ sind weit gefasst: „Der Begriff der Zwecke wissenschaftlicher Forschung sollte weit ausgelegt werden und beispielsweise die technologische Entwicklung und die Demonstration, die Grundlagenforschung, die angewandte Forschung und privat finanzierte Forschung einschließen. Beispiele hierfür sind Innovationstätigkeiten, einschließlich des Trainierens von KI-Algorithmen, die in der Gesundheitsversorgung oder Pflege natürlicher Personen eingesetzt werden könnten, sowie die Bewertung und Weiterentwicklung bestehender Algorithmen und Produkte für solche Zwecke.“

Immerhin schimmert im Text ab und zu durch, dass es sich bei den Bürgern nicht nur um eine Ansammlung von Daten handelt, sondern auch um Menschen. So solle „berücksichtigt werden, dass der unmittelbare Zugang natürlicher Personen zu bestimmten Arten ihrer personenbezogenen elektronischen Gesundheitsdaten die Sicherheit natürlicher Personen gefährden oder unethisch sein kann. Beispielsweise könnte es unethisch sein, einem Patienten die Diagnose einer unheilbaren Krankheit, die vermutlich zum baldigen Tod führen wird, auf elektronischem Wege mitzuteilen, anstatt zunächst im Patientengespräch. Daher sollte es in derartigen Situationen möglich sein, die Gewährung dieses Zugangs für einen begrenzten Zeitraum zu verzögern, zum Beispiel bis zu dem Moment, an dem der Patient und der Angehörige eines Gesundheitsberufs miteinander in Kontakt treten.“

Strafzahlungen bei Datenmissbrauch

Außerdem wird betont: „Jedes Bestreben, die Daten für Maßnahmen zum Nachteil der betroffenen natürlichen Person zu verwenden, beispielsweise, um Versicherungsbeiträge zu erhöhen, Handlungen durchzuführen, die möglicherweise zum Nachteil der natürlichen Personen in Verbindung mit Beschäftigung, Rente oder Bankwesen wären, einschließlich bei der Vergabe von Hypotheken, Produkte oder Behandlungen zu bewerben, Entscheidungen im Einzelfall zu automatisieren, die Identität natürlicher Personen zu rekonstruieren oder schädliche Produkte zu entwickeln, sollte verboten werden.“ Allein diese Aufzählung spiegelt jedoch die repressiven Möglichkeiten wider, die die Macht über Daten mit sich bringen. 

Auch die Fehleranfälligkeit von elektronischen Patientenakten wird indirekt eingestanden: „Indem natürliche Personen leichteren und schnelleren Zugang zu ihren personenbezogenen elektronischen Gesundheitsdaten erhalten, können sie auch mögliche Fehler wie falsche Angaben oder falsch zugeordnete Patientenakten erkennen. In solchen Fällen sollte es natürlichen Personen ermöglicht werden, die Berichtigung unrichtiger elektronischer Gesundheitsdaten unverzüglich und kostenlos online über einen Zugangsdienst für elektronische Gesundheitsdaten zu beantragen. Derartige Anträge auf Berichtigung sollten von den Datenverantwortlichen im Einklang mit der Verordnung (EU) 2016/679 bearbeitet werden, erforderlichenfalls unter Einbeziehung von Angehörigen der Gesundheitsberufe mit einschlägiger Spezialisierung, die für die Behandlung der natürlichen Personen verantwortlich sind.“

Angesichts der Sensibilität elektronischer Gesundheitsdaten sei es erforderlich, die Risiken für die Privatsphäre natürlicher Personen zu verringern. Daher sollen in allen Fällen, in denen dies ausreicht, nicht personenbezogene elektronische Gesundheitsdaten zur Verfügung gestellt werden, und personenbezogene elektronische Gesundheitsdaten sollen nur in pseudonymisiertem oder anonymisiertem Format übermittelt werden. Bei Datenmissbrauch drohen Strafzahlungen (sprich: Einnahmen für die entsprechenden „Stellen für den Zugang zu Gesundheitsdaten“): „Um die Durchsetzung der Vorschriften über die Sekundärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten zu verbessern, sollten geeignete Maßnahmen vorgesehen werden, die für den Fall, dass Nutzer oder Inhaber von Gesundheitsdaten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, Geldbußen oder Durchsetzungsmaßnahmen durch die Stellen für den Zugang zu Gesundheitsdaten oder den vorübergehenden oder endgültigen Ausschluss dieser Nutzer oder Inhaber von Gesundheitsdaten aus dem EHDS-Rahmen nach sich ziehen können.“

Nutzung von Gesundheitsdaten für "Politikgestaltung"

Doch nicht nur in Krisensituationen nimmt die EU-Kommission den Zugang zu Gesundheitsdaten für sich in Anspruch: „Wie die COVID-19-Krise gezeigt hat, benötigen die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union mit einem gesetzlichen Mandat im Bereich der öffentlichen Gesundheit, insbesondere die Kommission, längerfristig und wiederkehrend Zugang zu Gesundheitsdaten. Dies kann nicht nur unter besonderen, durch Unionsrecht oder nationales Recht festgelegten Umständen in Krisenzeiten zutreffen, sondern auch, wenn es darum geht, regelmäßig wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Unterstützung für die Politik der Union bereitzustellen. Der Zugang zu diesen Daten kann in bestimmten Mitgliedstaaten oder im gesamten Gebiet der Union erforderlich sein. Diese Nutzer von Gesundheitsdaten sollten von einem beschleunigten Verfahren profitieren können, bei dem die Daten in der Regel in weniger als zwei Monaten bereitgestellt werden, wobei die Frist in komplexeren Fällen um einen Monat verlängert werden kann.“

Um einen „inklusiven und nachhaltigen Rahmen für die länderübergreifende Sekundärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten“ zu schaffen, soll eine neue grenzüberschreitende Infrastruktur namens HealthData@EU eingerichtet werden. Zur Verwirklichung des EHDS sei zudem eine weitere Digitalisierung auf nationaler Ebene erforderlich. Daher sollen sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Kommission den EHDS im Rahmen verschiedener EU-Fonds und -Instrumente unterstützen. Beispielsweise haben die Mitgliedstaaten im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität 12 Milliarden Euro für Investitionen in die digitale Gesundheit vorgesehen. Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung und InvestEU biete weitere Investitionsmöglichkeiten. 

Darüber hinaus werde die Kommission mehr als 810 Millionen Euro zur Unterstützung des EHDS bereitstellen: 280 Millionen Euro stehen im Rahmen des Programms EU4Health zur Verfügung, der Rest wird aus dem Programm „Digitales Europa“, der Fazilität „Connecting Europe“ und „Horizont Europa“ finanziert. In einem Factsheet zum Wachstumspotenzial der Gesundheitsdatenwirtschaft prognostiziert die EU-Kommission 5,5 Milliarden Euro Einsparungen über einen Zeitraum von zehn Jahren durch einen besseren Zugang zu und den Austausch von Gesundheitsdaten im Gesundheitswesen sowie 5,4 Milliarden Euro Einsparungen durch eine bessere Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschung, Innovation und Politikgestaltung. Insgesamt erwartet die Kommission 20 bis 30 Prozent zusätzliches Wachstum des digitalen Gesundheitsmarktes.

Kritik von Datenschützern

Angehörige von Gesundheitsberufen sollen ihre digitalen Kompetenzen im Gesundheitsbereich europaweit ständig weiterentwickeln. Einrichtungen aus Drittländern oder internationale Organisationen sollen nur auf der Grundlage des Gegenseitigkeitsprinzips Zugang zu elektronischen Gesundheitsdaten erhalten. Zudem wird ein Forum von Interessengruppen eingerichtet, das aus Vertretern von Patientenorganisationen und der Industrie, Angehörigen von Gesundheitsberufen, Verbraucherorganisationen, Wissenschaftlern und Hochschulen bestehen und von der Kommission im Anschluss an einen öffentlichen Aufruf und ein transparentes Auswahlverfahren ernannt werden soll. Das Forum soll einen jährlichen Tätigkeitsbericht erstellen.

Operative Entscheidungen über die Entwicklung und den Betrieb der grenzüberschreitenden Infrastrukturen sollen die Lenkungsgruppe MyHealth@EU und die Lenkungsgruppe HealthData@EU treffen, die sich jeweils aus einem Vertreter der nationalen Kontaktstellen pro Mitgliedstaat zusammensetzen. Die EU-Kommission soll dem Rat jedes Jahr nach Inkrafttreten der Verordnung und bis zu ihrer vollständigen Anwendung einen Fortschrittsbericht vorlegen. Der Text der vorläufigen Verordnung trägt übrigens den Titel: „Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 24. April 2024 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Raum für Gesundheitsdaten (COM(2022)0197 – C9-0167/2022 – 2022/0140(COD))“. Der Rat muss noch seine endgültige Zustimmung geben, bevor die Verordnung in Kraft tritt, was jedoch als so gut wie sicher gilt.

Kritik am neuen EHDS gibt es erwartungsgemäß aus zwei Richtungen: Während Datenschützer befürchten, dass der EHDS als Blaupause für weitere Datenräume dienen könnte, geht der Zugang zu Gesundheitsdaten Industrievertretern noch nicht weit genug. So kritisiert der Pharmaverband BPI besonders die Regelung, dass Patienten den Zugriff auf ihre Gesundheitsdaten ablehnen können. Diese führe zu „einem Qualitätsverlust bei der Nutzung gemeinsamer Daten“ und zu „einer unvollständigen Datengrundlage“, die „den Fortschritt bei der Entwicklung wichtiger Medikamente und Therapien“ behindern könnte. Der BPI werde sich daher weiter „für eine effiziente und effektive patientenzentrierte Versorgung im Rahmen des Europäischen Gesundheitsdatenraums“ einsetzen und fordert „eine erneute Prüfung der beschlossenen Maßnahmen“.

Fernöstliche Konkurrenz

Um Digitalisierung geht es auch bei der Verordnung zur Verbesserung der Sicherheit und Qualität von Substanzen menschlichen Ursprungs (substances of human origin, kurz: SoHO). So soll eine SoHO-Plattform der EU eingerichtet werden als „ein zentrales digitales Instrument für Behörden und Interessenträger, um den Datenaustausch und die Verwaltung von Daten in diesem Sektor zu erleichtern“. Sie soll von der Kommission entwickelt und gehostet werden. Die Plattform soll Daten über Spenden (etwa für Bluttransfusionen oder Hauttransplantationen), deren klinische Verwendung und Nebenwirkungen veröffentlichen. Und die neue Allianz für kritische Arzneimittel, in der die EU-Kommission die Mitgliedstaaten, die Industrie, Patienten und Angehörige der Gesundheitsberufe zusammenbringen will, um „Maßnahmen im Bereich der Industriepolitik“ zu ermitteln, die die Versorgung mit kritischen Arzneimitteln in der EU stärken soll, bezieht sich ebenfalls auf digitale Technologien im Rahmen der Plattform Strategische Technologien für Europa(Strategic Technologies for Europe Platform, kurz: STEP).

Bei der Erschließung dieser lukrativen Märkte stört allerdings die Konkurrenz aus Fernost, und so hat die EU-Kommission aktuell eine Untersuchung zur Beschaffung chinesischer Medizinprodukte eingeleitet. Mit dem Instrument für das internationale Beschaffungswesen(International Procurement Instrument, kurz: IPI) will die EU der Diskriminierung europäischer Unternehmen vorbeugen. Hintergrund ist, dass die chinesischen Ausfuhren von Medizinprodukten nach Europa zwischen 2015 und 2023 um mehr als 100 Prozent gestiegen sind. Es ist das erste Mal, dass dieses Instrument, das 2012 von der EU-Kommission vorgeschlagen worden war und 2022 in Kraft getreten ist, zum Einsatz kommt. Ob diese Protektionismus-Taktik aufgeht, ist allerdings fraglich. 

Durch Projekte wie den Europäischen Raum für Gesundheitsdaten dient sich die EU-Kommission offensichtlich den Interessen der Digital- und Pharmabranche und deren Vermögenshaltern an. Das alleine wäre vielleicht noch verkraftbar, wenn sie nicht gleichzeitig den Mittelstand ruinieren und die Landwirtschaft zerstören würde. So ist es eine Frage der Zeit, bis ihr alles um die Ohren fliegt.

Auch wenn die Digitalisierung des Gesundheitswesens in mancher Hinsicht wie etwa bei der Kommunikation oder der Diagnostik sicher sinnvoll für Patienten ist: Um sie geht es nur am Rande. Schlimmer noch: Durch Klauseln wie derjenigen zur obligatorischen „Sekundärnutzung“ von Gesundheitsdaten bei „schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren“ werden die EU-Bürger schlichtweg entmündigt und sind nicht mehr Herr über ihre persönlichsten Daten.

Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.

Foto: Mini Misra

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Leserpost

netiquette:

Sam Lowry / 29.04.2024

“Cannabis legalisieren und Zucker und Salz verbieten, genau mein Humor.” (kopiert)

Karl-Heinz Böhnke / 29.04.2024

Da der Bürger selbst erwartet, ja fordert, daß die Politik ihn gesund erhält, braucht er sich nicht zu wundern, wenn diese ihn erst geregelt krank macht oder erklärt, um so seinem Begehr scheinbar entgegen kommen zu können. Politik hat doch mit der Gesundheit der Bürger genauso wenig zu tun wie mit deren Lebensstil. Ganz klar: Der Bürger selbst verlangt die Ursachen all dieser Fehlentwicklungen entsprechend dem Parkinson’schen Prinzip der Ämterhäufung mit folglicher Regulierung und Kompetenzerweiterung, weil er meint, sonst gegenüber anderen zu kurz zu kommen. Viele haben sich doch nur spritzen lassen, weil sie Anspruch darauf hatten.

Michael Hinz / 29.04.2024

Als Lenin im Kreise seiner Getreuen auf die Revolution zu sprechen kam, warnten die Bolschewiki - Revolution ja, aber nicht jetzt, wenn wir zu früh zuschlagen, gehen wir fehl und riskieren das gesamte Vorhaben. Darauf entgegnete Lenin - #Der richtigte Moment für die Revolution ist immer jetzt#.  Das ist so genial wie einfach. Wenn man es “nicht jetzt macht, macht man es nie…”. Der finanz-digitale Komplex und seine nützlichen Idioten haben Lenin studiert. Sie wissen, der richtige Moment ist <<<<Jetzt>>>>>

Tom Walter / 29.04.2024

“Strafzahlungen bei Datenmissbrauch” Selten so gelacht. Meine Daten wurden, ohne meine Zustimmung und vor allem ohne jedweden Rechtsgrund, von einer Bank an eine Staatsanwaltschaft geliefert. Als “Beifang” im Rahmen des Debankings eines Dritten. Der Landesdatenschutzbeauftragte will aber partout kein Vergehen sehen.

L. Luhmann / 29.04.2024

“Der EHDS zeigt alarmierend repressive Züge. So sollen die Gesundheitsdaten aller EU-Bürger für die „Sekundärnutzung“ zur Verfügung stehen, also etwa für wissenschaftliche Forschung, aber beispielsweise auch zum Trainieren von KI-Algorithmen und für die Politikgestaltung.” - Ich gehe davon aus, dass die Eliten uns dazu nutzen, Erkenntnisse zu generieren, die ihnen einen enormen Wissensvorsprung sichern. Nicht umsonst wurde bei den injizierten RNA-Toxinen auf eineindeutige Zuordnung zu den jeweiligen Individuen geachtet. Diese Leute wollen nicht umsonst alles über jeden wissen. Dass diese Leute locker flockig über Leichen gehen, wissen wir seit 2020.

Volker Kleinophorst / 29.04.2024

“Sie sind nicht hinter mir her, Sie sind hinter euch her. Ich steh nur im Weg.” (Trump)

Jörg Themlitz / 29.04.2024

Daten sammeln und zum Nutzen des Souverän, EU Bürger, in alle Richtungen auszuwerten bzw. um Schaden vom Souverän abzuwenden, völlig richtig. Das Problem, den Souverän gibt es nicht mehr. Es ist für mich nicht vorstellbar, dass die Kaiserin in einer Problemsituation eine SMS verfasst: “Hallo Pharma, wir haben ein Problem. Darum müßt Ihr mal auf den Milliardengewinn verzichten.”

Bernd Fielitz / 29.04.2024

“Schwerwiegende grenzüberschreitende Gefahren für die Gesundheit…” Zählen eigentlich Messerstiche auch dazu?

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