Nietzsches frohe Botschaft (1)

Von Ulrike Prokop.

In den Unzeitgemässen Betrachtungen (1873-1876) sucht der Ausbrecher Nietzsche für sich, eine neue Position zu bestimmen. Hier hat ein starkes Größen-Ich den Mut, zu sich zu finden und die Welt herauszufordern. Auf die Frage: „Was will ich auf keinen Fall?“ antwortet die erste Unzeitgemässe Betrachtung Folgendes: Ich will niemals werden wie der Philosoph David Strauss. Der soll uns hier nicht als Autor interessieren, wohl aber als die Figur, die Nietzsche sich entwirft, um Nein zu sagen. Er definiert Strauss als den erfolgreichen Opportunisten in der öffentlichen Echo-Kammer:

 „Er nimmt um sich herum lauter gleiche Bedürfnisse und ähnliche Ansichten wahr; wohin er tritt umfängt ihn auch sofort das Band einer stillschweigenden Convention über viele Dinge (…): diese imponierende Gleichartigkeit, dieses nicht befohlene und doch sofort losbrechende tutti unisono verführt ihn zu dem Glauben, dass hier eine Kultur walten möge.“

Zur Vervielfältigung des Blödsinns, dazu habe Strauss seinen Beitrag geleistet, in diesem trüben Gewässer treibe der sich herum! Dem Mainstream-Opportunisten wirft Nietzsche vor, die nationale Tradition zu zerstören – durch Einebnen des kritischen Gehalts. Der zweite Vorwurf richtet sich gegen den Sentimentalkitsch, eine Deformation des „Bekenners“ Strauss, die Nietzsche geradezu als Charakteristikum herausstellt und die immer das Kennzeichen des minderen Geistes der kompakten Majorität sei:

„Ein Behagen an der eigenen Enge, der eigenen Ungestörtheit, ja an der eigenen Beschränktheit.(…) Es fanden sich eigene darstellende Talente, welche das Glück, ( …) die Alltäglichkeit, die bäuerische Gesundheit und alles Behagen, welches über Kinder- Bauern- und Gelehrtenstuben ausgebreitet ist, mit zierlichem Pinsel nachmalten.“

Lustvolles Demontieren

Dieses grundgütige Verhältnis zur Welt und zu sich selbst schreckt vor nichts zurück und verleibt sich selbst die unverdaulichen „Klassiker“ ein. Die Abtötung der Tradition durch eine mächtige, beschränkte öffentliche Meinung – wofür Strauss hier steht –  geschieht durch Etikettierung, die dem Fremdartigen und Fordernden der Kultur die Schärfe nimmt. Diese Etiketten schaffen Sicherheit und eingebildete Nähe zum Außergewöhnlichen. Lustvoll demontiert Nietzsche an seinem Gegner die gemeine Idolatrie: Das Gewaltige wird eingekocht und assimiliert:

„Wenn er zum Beispiel mit jener Wärme, die uns bei seinem Lobe Lessings verdächtig war, den Namen Haydn in den Mund nimmt und sich als (…) Priester eines Haydnischen Mysterienkults gebärdet, dabei aber Haydn mit einer ‚ehrlichen Suppe’, Beethoven mit ,confect’ (und zwar im Hinblick auf die Quartettmusik) vergleicht, so steht für uns nur eins fest: s e i n Confect-Beethoven, und sein Suppen-Haydn ist nicht u n s e r  H a y d n.“

Nietzsche empört sich gegen die Einebnung von Distanz. Es verbietet sich die Eingemeindung. Es geht ihm stattdessen um Anforderungen, die hier gestellt sind. Damit ist nicht allein Kennerschaft gefordert, sondern die Bereitschaft, sich dem Appell der Werke auszusetzen, statt sie gemütlich zu genießen. Die Differenz zum kritisierten Betrieb wird hier so benannt: Die großen Werke stellen eine kompromisslose Suche dar. Die Zerstörung ihrer Bedeutung erfolgt durch die Behauptung, die Kultur sei „am Ziel“. Aber das Gegenteil ist für Nietzsche wahr:

„Fragend zogen sie (die Meister) durch die Wildnis und das Gestrüpp elender Zeiten und enger Zustände, und als Suchende entschwanden sie unseren Blicken (…) Was urteilt aber unsere Philisterbildung über diese Suchenden? Sie nimmt sie einfach als Findende und scheint zu vergessen, dass jene selbst sich nur als Suchende fühlten.“

Keine Schriften zur Volksbeglückung

Das Verhältnis zwischen „Philistern“ – anders gesagt: der Mainstream-Meinung – und den Künstlern und eigenwilligen Denkern ist nicht zureichend mit der zerstörerischen Fehldeutung ihrer Werke zum Zweck der gefälligen Dekoration im Spießeralltag  beschrieben. Es ist da mehr! Von Seiten der herrschenden Majorität besteht ein Hassverhältnis, das sich gegen alle lebendige Produktion richtet und dieser ans Leben will. Das heißt konkret: Es besteht eine unversöhnliche Gegnerschaft, die es auf Vernichtung abgesehen hat. Das gilt für Gegenwart und Vergangenheit. An ihrer verbohrten bürgerlichen Umwelt sind sie – so der junge Nietzsche – zugrunde gegangen: Lessing, Hölderlin und Schiller:

„Wie ihr (..) dürftet ohne Scham an diesen Lessing denken, der gerade an eurer Stumpfheit (…) unter dem Missstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zu Grunde ging, ohne ein einziges mal jenen ewigen Flug wagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war? Und was empfindet ihr bei Winckelmann’s Angedenken, der, um seinen Blick von euren grotesken Albernheiten zu befreien, bei den Jesuiten um Hilfe betteln ging und dessen schmählicher Übertritt nicht ihn, sondern euch geschändet hat? Ihr dürftet gar Schillers Namen nennen, ohne zu erröthen? Seht sein Bild euch an! Das funkelnde Auge, das verächtlich über euch hinwegfliegt, diese tödtlich geröthete Wange, das sagt euch nichts? Da hattet ihr so ein herrliches, göttliches Spielzeug, das durch euch zerbrochen wurde.(…) Bei keinem Lebenswerk eurer grossen Genien habt ihr mitgeholfen, und jetzt wollt ihr ein Dogma daraus machen, dass keinem mehr geholfen werde.“

Dieser pathetische Ausruf stellt die Vorbilder vor Augen. Die sich nicht angepasst haben, sie mussten als Einsame und Bedrängte ihren Weg gehen. Der Preis für das freie Denken und Schaffen ist hoch; bezahlt wird mit dem Leben. Und doch ruft der Verfasser aus: Wenn ich den Gang des Herrn David Strauss in den Opportunismus der Fortschrittsoptimisten sehe – auch der zahlt seinen Preis:

„Der Straussische Philister haust in den Werken unserer grossen Dichter und Musiker wie ein Gewürm welches lebt, indem es zerstört, bewundert, indem es frisst, anbetet indem es verdaut.“

Der junge Nietzsche beantwortet die Frage: „Was will ich nicht?“ mit einer Provokation: keine Schriften zur Volksbeglückung verfassen, die Unvereinbares auf einen angenehmen Nenner bringen; niemals: Darwin und die Bibel versöhnen; niemals an die Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins glauben; niemals Gottes väterliche Fügung in den Dingen wie sie sind bewundern. Das alles nicht – und am wenigsten den Menschheitsfortschritt zur Humanität feiern. Noch weniger das Lieblingsprojekt der modernen Opportunisten, die Volkspädagogik, bedienen. Deren Prinzip: „jeder so gut er kann und alle gemeinsam Dilettanten“ wird radikal verworfen:

„Dächten wir uns einen Augenblick, dass durch einen Zufall die Eroica, die Pastorale und die Neunte in (seinen, Strauss’) Besitz (…) geraten wären, und dass es von ihm nun abgehangen hätte, durch Beseitigung so ‚problematischer Produkte’  das Bild des Meisters rein zu halten – wer zweifelt, dass er sie verbrannt hätte?“

Leiden am Selbstverrat

Das positive Gegenbild ist „Schopenhauer als Erzieher“, gesehen als der mutige Selbstsucher. Nietzsche nimmt Schopenhauer ganz aktuell, nachdem er selbst die Brücken in die unangefochtene Karriere abgebrochen hat, als Projektion, um die eigenen Ängste zu formulieren: Wer will ich sein? Was für Gefahren der Selbstzerstörung gibt es? Einsamkeit, Verzweiflung an der Wahrheit und Verbitterung. Diese Gefahren ergeben sich aus der Konstitution des Außerordentlichen. Das Genie ist etwas, das nie ganz passt. An Schopenhauer kann er den Mut durchspielen: den Widerstand gegen den Zeitgeist und dessen institutionalisierte Macht. Er darf sich mit den Worten zureden und trösten, welche Schopenhauer, sein großer Erzieher, einmal gebrauchte:

„Ein glückliches Leben ist unmöglich: Das Höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf’.“

Was heißt heroisches Leben? In dem Text Schopenhauer als Erzieher wird das als Entscheidungsdrama dargestellt. Nietzsche schreibt:

„Es gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist, und nun nach rechts und nach links, nach rückwärts und überallhin schielt.“

Die Strafe für den Opportunismus ist das Leiden am Selbstverrat. Ein auf immer Abgeschnittensein vom idealen Selbst. Dieses Abgeschnittensein vom Ideal vergiftet alles. An die Stelle treten Ersatzbefriedigungen. Die Suche nach dem idealen Selbst ist allen Menschen eine eingeborene Kraft:

„Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer dir allein. Zwar gibt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dich über den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst; du würdest dich verpfänden und verlieren. Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann außer dir: Wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.“

Aber wie kann ich wissen, welcher Weg der rechte ist?

„Um aber das wichtigste Verhör zu veranstalten, gibt es dies Mittel. Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir, durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst.“

Ideal des unabhängigen Vergleichens

Niemand ist etwas aus sich allein, als Teil seiner Welt ist jeder verstrickt und sucht sich seine Muster aus. Jene Suche bewegt sich im vorgegebenen Rahmen, und was gesucht und gefunden wird, ist nicht zufällig. Das begeisterte die frühen Feministinnen um die Jahrhundertwende, die das stereotype Frauenbild Nietzsches einfach beiseite ließen und sich das nahmen, was sie brauchten: ein Bild des Ich, das sich nicht der Konvention unterwirft, sondern das eine integrative Kraft besitzt – so Nietzsche:

„Vergleiche diese Gegenstände, sieh, wie einer den anderen ergänzt, erweitert, überbietet, verklärt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist, denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir oder wenigstens über dem was du gewöhnlich als dein Ich nimmst.“

Diese zweite Natur, das Ideal des unabhängigen Vergleichens, zu dem die erste Natur sich emporarbeitet, ist nichts Fremdbestimmtes. Sie verrät sich in den Idealen und Vorbildern – die „du dir gewählt hast“–, weil sie “dir entsprechen“.

Dieses Programm unternimmt Nietzsche in der Folge mit sich selbst. Schopenhauer nahm er als leuchtendes Vorbild. Das Vorbild half, etwas Zerstreutes in der Erfahrung, etwas Disparates, in eine Gestalt zu bringen. Und zwar ebenso durch die Inhalte wie durch den Stil, die Art zu sprechen und zu leben. Die Befreiung zur Selbsterfahrung und Selbststeigerung nach dem eigenen inneren Maß – das ist die frohe Botschaft.

Den zweiten Teil dieser Serie finden Sie hier.

Den dritten Teil dieser Serie finden Sie hier.

 

Ulrike Prokop ist Professorin em. für Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg. Zahlreiche Publikationen zur Kulturtheorie.

Foto: Gustav-Adolf Schultze/ Special:BookSources via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Oliver Lang / 24.12.2019

Zu Beginn des Textes habe ich gestutzt, ist das Fiktion, Richard David Precht wird von Nietzsche beschrieben?

Karl-Heinz Vonderstein / 24.12.2019

“Formel meines Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel!”- Nietzsche.

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