Kulturelle Aneignung ist Grundlage kultureller Teilhabe

Eine kulturelle Aneignung ist keine kulturelle Demütigung, sondern im reinen Wortsinn sogar die Grundlage für das Gegenteil. Erst, wer sich zum Beispiel eine andere Sprache aneignet, kann einen Zugang zu einer Kultur gewinnen, den er sonst nur aus dritter Hand erfährt.

Es ist bezeichnend, wie unkritisch manche Menschen Begriffe als Tabu hinnehmen, die dazu gar nicht taugen. „Kulturelle Aneignung“ ist dafür ein Beispiel. Aneignen ist nicht enteignen. Sich etwas anzueignen ist erst einmal positiv konnotiert. Dabei geht es um den Erwerb, um das Hinzulernen, nicht um das Wegnehmen. Der ganze Bildungsprozess beruht auf kultureller Aneignung. Etwas völlig anderes ist eine Missbrauchshandlung, aber diese steckt in dem Begriff semantisch gar nicht drin. Eine kulturelle Aneignung ist keine kulturelle Demütigung, sondern im reinen Wortsinn sogar die Grundlage für das Gegenteil. Erst, wer sich zum Beispiel eine andere Sprache aneignet, kann einen Zugang zu einer Kultur gewinnen, den er sonst nur aus dritter Hand erfährt.

Es dauert nicht mehr lange, dann sind auch Fremdsprachen „kulturelle Aneignung“. Vor einer so kulturfeindlichen Position wie der Ablehnung von Fremdsprachen schreckt man aktuell noch zurück. Aber: Aus dem, was woke Aktivisten für folgerichtig halten, wäre das sogar noch näherliegend, als fiktionale filmische und literarische Erzeugnisse als beleidigend für die Lebenswirklichkeit von Menschen anzusehen, für die man stellvertretend empört ist – ohne sie gefragt zu haben, ob sie von solchen wohlmeinenden unmandatierten Advokaten vertreten werden möchten. Aneignend im Sinne von übergriffig sind hier diejenigen, die meinen, sie könnten für Kulturen sprechen, denen sie gar nicht angehören.

Wer extravagante Frisuren und fiktionale Literatur für einen Angriff auf die kulturelle Selbstbestimmung hält, geht von der Fehlannahme aus, dass Kulturen eine homogene Angelegenheit wären und von der Fehlannahme, bei deren Selbsterfindung und Selbsterhaltung ein Mitspracherecht, ein Mandat zu haben. Dabei sind sie ein Zusammenwachsen und ein Sich-Fortentwickeln. Immer schon gewesen. Gerade das Interesse von „Kulturfremden“ an dem, was sie nicht kennen, ist die Grundlage der Weiterentwicklung und Bereicherung von Kulturen durch das, was sie vorher nicht hatten.

Boden für gegenseitiges kulturelles Unverständnis

Jedes Kind gerät durch diese Art Neugier in „seine eigene“ Kultur hinein. Und gelangt durch diesen Prozess des Lernens und Aneignens bestenfalls dahin, dass es auch in andere Kulturen eintaucht und von ihnen viel mitnimmt. Das ist gerade die Grundlage dafür, toxische Vorurteile abzubauen, von denen diejenigen reden, die „kulturelle Aneignung“ verhindern wollen. Die Vertreter einer Sanktionierung von „kultureller Aneignung“ legen ja durch ihre autoritäre Attitüde den Boden für gegenseitiges kulturelles Unverständnis. Zu Ende gedacht reden sie ihren Gegnern, den Anhängern des Ethnozentrismus, das Wort. Eine Ironie, die verhärmten Aktivisten kaum zu vermitteln ist. 

Wir reden über eine im Kern autoritäre und diskursfeindliche Ideologie, die auf qualifizierten Widerspruch unflexibel reagiert. Damit ist sie das Gegenteil von Wissenschaft. Man sollte meinen, nach einer vernichtenden Geschichte von Bevormundungen, Verboten und Verfolgungen wären gerade die Deutschen zu einer Art Freiheitsliebe hingeneigt, die es sich verbittet, anderen ihre Lebensführung vorzuschreiben. Offenbar war diese Geschichte nur demütigend und nicht kathartisch. Offenbar fühlt sich eine lautstarke Minderheit berufen, die Mehrheit zu dem zu erziehen, was sie nicht sein soll, damit sie es wird. Demokratieunverständiger geht's kaum. Dadurch droht die Mehrheit zu dem Gegenteil von dem zu werden, was sie erhält. Wer sich von woken Aktivisten vorschreiben lässt, wie man sein soll, verliert: Maß, Bildung, und die Distanz zu solchen Narzissten, die ihre Meinung für das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung halten.

Kulturelle Aneignung ist im Wortsinn wie jede Aneignung: Sich etwas zu eigen machen, ohne dem etwas zu nehmen, an dem sich Aneignung ereignet. Das ist auch Anteilnahme. Das ist Teilwerden. Die moralisch-kulturellen Puristen, die eine Gewalttat darin sehen, handeln destruktiv und missbrauchen den positiv konnotierten Begriff. Sie nehmen ihn aus seinem natürlichen Sprachgefüge. Die Gegenseite behält sich vor, den Begriff „aneignen“ nicht in seiner Bedeutung umdeuten zu lassen, sondern ihn so in den Diskurs einzubringen, wie er gedacht ist. Die Hoheit über die Begriffe darf keinem ideologischen Lager gehören.

Foto: Dirk Maxeiner

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giesemann gerhard / 31.08.2022

Selbst die grimmigsten Kritiker des Westens haben sich alles, aber wirklich alles, was von dort kommt angeeignet. Ohne lange zu fragen. Sie bedrohen uns sogar damit. Ist in Ordnung.

Joerg Machan / 31.08.2022

Integration bedeutet letztendlich, sich die Kultur des neuen Landes anzueignen. Muslime begreifen, dass Christen einen arbeitsfreien Wochentag haben, den diese sich von den Juden angeeignet haben und freuen sich über den Ruhetag. Kinder und Erwachsene lieben italienische Pizza. Auch die, die von Pakistanern gebacken werden. Allmählich denke ich, dass die Leute, die uns das alles verbieten wollen, die wahren Nazis sind ...

Karsten Dörre / 31.08.2022

Das wäre mit ausreichender, freiheitlicher Bildung nicht möglich, dass ausufernde Erziehungsmassnahmen durch Fremd den persönlichen Alltag bestimmen. Nicht missverstehen, es geht nicht um nötige Regeln in der Öffentlichkeit. Es wird der “neue Mensch” geformt, der solidarisch und freudestrahlend jeden Verlust, jeden Verzicht, jede Verletzung der eigenen Persönlichkeitssphäre als gut, richtig und wichtig wahrnimmt. Der vorgesetzte Dinge unreflektiert zur Kenntnis nimmt und umsetzt. Der sich belabern lässt, dass es in Freiheit keine Alternativen gäbe. Das nennt man Paradigmenwechsel. Oder Revolution. Oder wie Bundeskanzler Scholz “Zeitenwende”. Und wenn Volk nicht merkt, dass eine Revolution draußen wie drin in der Wohnung inklusive Schlafzimmer voll im Gang ist, dann wurde die letzten Jahrzehnte in Bildung erfolgreich wenig investiert. Wenn das Wort Freiheit weniger wiegt als Solidarität (Saunenbesitzer sollen Gewerbe abmelden), dann ist der Kollektivismus (aus der vermoderten Mottenkiste zu neuen Ehren gekommen: Kollektiv) so gut wie abgeschlossen.

Wilfried Cremer / 31.08.2022

Lieber Herr Harmsen, ein verrutschter Maßstab für Rassismus zeugt von heimlichem Rassismus und der Angst, dass doch was in die Hose rutscht.

Arne Ausländer / 31.08.2022

Ist der Begriff der “kulturellen Aneignung” nicht derart offensichtlich widersinnig (wie es hier noch einmal schön zusammengefaßt wurde), daß man davon ausgehen muß, daß der Widersinn Teil der Intention seiner Erfindung gewesen sein muß? Nach dem Prinzip: Nur wenn auch schwachsinnige Anordnungen widerspruchlos befolgt werden, kann man sich des Gehorsams sicher sein? Denn wenn der Vernunft gefolgt wird, sagt das ja nicht über Gehorsam aus. Aber die willenlose Unterordnung des gemeinen Volks ist doch zweifellos das Ziel all der Maßnahmen der letzten Jahre. Erschreckend nur, wie wenige das zu stören scheint.

Rudolf Dietze / 31.08.2022

Man kann sich auch Recht und daraus Macht aneignen. Es geht immer um Macht. Die Vorkommnisse in den USA sprechen eine deutliche Sprache. Die BLM-Bewegung benachteiligt niemand? Der synodale Weg, wohin? Meine Heimat, gibt es die? Alle lernen englisch, die Sprache durchsetzt mit Anglismen, Deutschlehrer wozu? Mein Altersstarrsinn ist überholt und ich bin bald weg. Es lebe der gechipte Mensch in der globalisierten Welt.

Harald Unger / 31.08.2022

Die Herrschafts- bzw. Zurichtungsmethoden: CorrectnessGenderKlimaMigrationRassismusWokenessVirus - haben, bis auf Virus, ihren Ursprung in marxistischen/esoterischen Subkulturen. Wo sie jahrzehntelang vor sich hin dümpelten. Bis sie, während Obama I, entdeckt wurden. Von den Think Tanks, politischen Stiftungen, NGOs, Aktivisten & Einzelmilliardären. Sinn & Zweck der Übung ist, die Epoche der Westlichen Bürgerlichen Gesellschaften zu beenden. Was sich derzeit, vor unseren Kuhaugen, in Riesenschritten vollzieht.

U. Hering / 31.08.2022

Sehr geehrter Herr Harmsen, mit Interesse habe ich Ihren Artikel gelesen, dem in in nuce ja geneigt bin, zuzustimmen. Gleichwohl mache ich mich anheischig, auf die Problematik des Bildungsbegriffs zu verweisen. Zunächst wäre das “Was?” zu klären, sodann das “Wozu?”; und schließlich dürfte es wohl nicht so weit gehen, wie das humanistische Verständnis von “eruditio” reicht: Nämlich, daß aus “ungeformtem” Menschenmaterial erst durch Bildung “Menschen” werden.

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