Alain Pichard, Gastautor / 27.01.2024 / 14:00 / Foto: Alain Pichard / 5 / Seite ausdrucken

Nour will was lernen

Bei einem Poetry-Slam beeindruckte mich die junge libanesische Schülerin Nour mit ihrem leidenschaftlichen Plädoyer für das Lernen. In einer Zeit, in der der Leistungsgedanke negativ assoziiert wird, eckte sie damit bei manchen an – und setzte sich doch durch. 

Eine der Sternstunden meiner Lehrerlaufbahn waren die von der Bielerin Tina Messer initiierten Workshops in der Poetry-Slam-Kunst. Während zweier Halbtage wurden meine Schülerinnen und Schüler in die Kunst des Poetry-Slams eingeführt, konnten erste zaghafte Versuche in eigener Dichtkunst wagen und präsentieren. Die gegenseitigen Präsentationen steigerten das Selbstbewusstsein und die Freude am Formulieren. Die Texte wuchsen in Länge und Gehalt. An einem schulinternen Abend für Lehrkräfte, Eltern, Behördenmitgliedern und natürlich den Schülerinnen und Schülern selbst konnten die jungen Poeten ihre selbstformulierten Texte vortragen.

Sie wurden in bewährter Poetry-Slam-Tradition mit Punkten bewertet (1 bis 10). Die bestbewerteten Darbietungen konnten dann im Rahmen eines großen Poetry-Wettbewerbs im altehrwürdigen „Chessu“ (das autonome Jugendzentrum) sich mit den Cracks einer anderen Schule messen. Der Anlass erfreut sich jeweils großer Beliebtheit und wird von meinen Schülern als „megacool“ empfunden. Spannend ist es dabei, auch die Reaktion der Eltern zu beobachten, viele von ihnen mit Migrationshintergrund. Auch wenn diese nicht alle Texte vollständig verstanden, waren sie dennoch stolz, ihre Kinder auf der Bühne zu sehen. Kulturarbeit im besten Sinn. 

Besonders in Erinnerung blieb mir eine junge libanesische Schülerin meiner Klasse. Nour, so ihr Name, beeindruckte uns Lehrkräfte und viele Eltern mit einem leidenschaftlichen Votum für einen besseren Umgang unter den Schülerinnen und Schülern der Oberstufenklassen. Nicht nur das: Ihr Text wurde zu einem glühenden Plädoyer für das Lernen.

Nicht alle Mitschüler waren von ihrem Bekenntnis begeistert

Eine Passage blieb mir in Erinnerung: „So frage ich, ob es noch Zusatzaufgaben gebe und da zischt es von hinten: ’halt doch die Fresse du Streberin!’ So ist es also hier, wer sich anstrengt und weiterkommen will, ist eine Streberin! Von diesem Land habe ich etwas anderes erwartet!“

Natürlich waren nicht alle Mitschüler von so einem Bekenntnis begeistert. Darunter übrigens durchaus nicht nur lustlose Migrantenkinder, sondern auch solide „einheimische“ Burschen.

Seit geraumer Zeit müssen sich Schülerinnen wie Nour nicht nur gegen minimalistische Mitschüler behaupten, sondern gegen ein Bündnis von Erziehungswissenschaftlern, Dozentinnen der pädagogischen Hochschulen und Bildungsfunktionären, welche ihre holistischen Vorstellungen auch auf die Studierenden übertragen wollen. So wird zum Beispiel die Forderung immer lauter, die Hausaufgaben abzuschaffen. Sie seien der Grund für Streitereien in der Familie, verursachten Stress und würden die Ungleichheit zwischen privilegierten und unterprivilegierten Schichten fördern. Streng nach dem Motto: Wo was groß ist, bleibt es rundherum klein. Und so etwas gelte es unter allen Umständen zu verhindern.

Keine Frage: Es gibt dumme Hausaufgaben, genauso wie es bequeme Lehrkräfte und einfältigen Unterricht gibt. Ich lege selbst auch nicht die Hand ins Feuer, dass ich immer die klügsten Arbeitsaufträge erteile. Hausaufträge können hingegen auch inspirierend und interessant sein, vor allem aber sind sie unvermeidlich, wenn es ums Lernen geht. Die selbstorganisierten Lektionen, in denen Schülerinnen und Schüler ihre Aufträge auch in der Schule unter Aufsicht und Betreuung der Lehrkräfte erledigen können, gehören längst zum Angebot der meisten Schulen.

Verachtung der Leistung schadet vor allem den Kindern der unteren Schichten

Nour gehörte zu den Schülerinnen und Schülern, die gerne lernen, am liebsten noch etwas mehr, auch zu Hause. Intuitiv misstraute sie den Leuten, welche ihr eine Umdeutung aller Werte predigen wollten: keine Leistung, dafür viele aufpäppelnde Sonderbetreuungen. An so etwas wollte sich die Torhüterin ihres Fußballclubs gar nicht erst gewöhnen. 

Sie ließ sich weder von Mitschülern noch von den immer zahlreicheren Experten in den Schaltzentralen der Bildungsbürokratie bremsen. Vermutlich ahnte die intelligente Libanesin, dass die Verachtung der Leistung vor allem den Kindern der unteren Schichten schadet, denn gerade sie müssen Leistung zeigen, um hochzukommen. Nour absolvierte eine KV-Lehre, machte anschließend die Berufsmatur (eine vorzügliche Schweizer Bildungsreform für gute Lehrlinge) und ist heute in einer internationalen Firma für die Finanzen verantwortlich. 

Bei der schulinternen Ausscheidung schaffte sie es nicht unter die besten Drei, trotz ihres vorzüglichen Textes – und damit meine ich nicht den mutigen Inhalt, sondern auch die sprachliche Brillanz. Sie wurde von einigen Mitschülern ziemlich ungnädig bewertet. Durch den Verzicht zweier vor ihr liegender Kameraden rutschte sie aber dennoch in das Finale im Chessu. Dort war das Publikum etwas „ausgewogener“ und erkannte den Wert des Textes. Sie belegte den 2. Platz!

 

Alain Pichard ist Grünliberaler Großrat im Kanton Bern und Mitbegründer des Bildungsblogs condorcet.ch. Trotz seiner Pensionierung ist er immer noch Lehrer an einer Brennpunktschule in Biel.

Foto: Alain Pichard

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Leserpost

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gerhard giesemann / 27.01.2024

Schlage vor, nur noch von “Schölern” zu sprechen.

Uwe Wilken / 27.01.2024

Gendern oder nicht gendern.  Ent- oder weder. Wat denn nu? Einmal lautet es “Schüler und Schülerinnen”,  dann sind es nur noch “Mitschüler”. Hat man hier die Mädels vergessen? Lass es doch besser gleich bleiben, sei konsequent. Einen durchgegenderten Sprachmüll nehme ich nicht mehr zur Kenntnis. Das hier ging gerade noch durch.

Karsten Dörre / 27.01.2024

Sorry, offen bekundetes Strebertum war zu keiner Zeit Volkswille. Wer mehr tun wollte bzw. will, tat und tut es individuell. Das hat auch einen praktischen Hintergrund. Individuell gewolltes Lernen fördert später den leichteren Zugang zu hochdotierten Jobs, weil wenig bis nichtqualifizierte Mitbewerber. Zudem ist es mühselig und anstrengend, nebenher noch wen mitreissen zu wollen. Da kommt letztlich nur Mittelmaß bei raus und dem befohlenen Kollektivismus sehr nahe.

Thomas Szabó / 27.01.2024

Lieber Herr Pichard, danke für diese schöne Geschichte. Sie müssen aber nicht extra jedes Mal betonen, dass es Schülerinnen und Schüler gibt. Das ist eine allgemein bekannte Tatsache. Ich bin der Existenz von Frauen seit meiner frühesten Kindheit bewusst. (Beispielsweise war meine Mutter eine Frau.) Das Wort Schüler beinhaltet auch die Schülerinnen. Als Lehrer sollten Sie das wissen.

Rainer Niersberger / 27.01.2024

Ich bin erstaunt, was in der Schweiz zusammengeht. Ein gruen! liberaler Grossrat, was immer das auch ist, der Lernen und Leistung, mithin eher konservative Tugenden, schätzt.  Ich kenne die Erfahrungen des Stadtrates sind, aber meine eigenen, aus Reisen gewonnenen, sagen mir, dass es, was Lernen und Leistung betrifft, nicht selten intergeschlechtlich grosse Unterschiede gibt. Unter anderem genau deshalb sind 80 % der ” zu uns Kommenden” maennlichen Geschlechts. Lernwillig, lernfähig, leistungsorientiert, fast etwas streberhaft, als genau das, was westliche Zivilisationen und Nationen brauchen.  Kleiner Scherz, wie unschwer zu erkennen.  Dieser geschlechtliche Unterschied ist natuerlich kein Zufall, wie Beobachtungen in den Laendern zeigen. Dass die Damen dort mit massiven Problemen zu kaempfen haben auch nicht. Deshalb betreiben Baerbock und Co eine ganz klar auf die Interessen dieser Frauen ausgerichtete Politik. Leider ist die selbst kognitiv nicht gerade verwöhnte Dame ueber den idealen Platz der Toiletten noch hinaus gekommen.  Mit den 80 % Herren bei uns tut man den Damen dort, auch der Demographie, keinen allzugrossen Gefallen. Uns selbst auch nicht. Aber das wiederum ist bei deutlich unter 100 nicht ganz so einfach zu begreifen.  Vielleicht tauschen wir die Dame aus dem Libanon fuer eine der Damen in diesem Regime aus. Zur Auswahl stehen alle, aber die Bildung laege natuerlich nahe.

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